Distanz 1
Auf meinen Ausstellungen erlebe ich oft, dass das Publikum anscheinend einfache Fragen zu den Gemälden stellt. Warum sind sie so grau, so groß, so dunkel, so rot? Warum hast du es gerade so gemacht?
Die Antwort ist nicht so einfach, denn die Frage trifft auf einen verworrenen Filz von Überlegungen, Gefühlen, Reflexionen, intuitiven und bewussten Entscheidungen, mit denen man Monate lange gelebt hat. Allein schon der Gedanke, sich diesem Chaos zuzuwenden, führt einen Kurzschluss im Hirn mit sich, so dass ich nur noch mit einer resignierten Handbewegung murmeln kann: „So sollte es eben sein…”
Ich habe es immer wichtig gefunden, dass man sich meine Bilder ohne ein bestimmtes Vorwissen ansehen kann. Ich will einen Raum schaffen, der offen ist für Deutung. Deshalb habe ich mich nie darüber geäußert, was die Bilder bedeuten, und habe es auch diesmal nicht vor. Im folgenden Text erkläre ich lediglich, was ich als Malerin getan habe, und erörtere die „handwerklichen” Probleme und meine Versuche, sie zu lösen.
Es ist also nicht nötig, den Text zu lesen, um etwas mit den Bildern anfangen zu können.
Im Zeitraum von 1979 bis 2004, den die Ausstellung abdeckt, wurde die Malerei ein Mal über das andere für „tot” erklärt wurde. Zwei Mal, in den 70er und den 90er Jahren, war das Malen als solches nahezu tabuisiert, was eigentlich sonderbar ist.
An welcher Eigenschaft der Malerei liegt das?
Wie malt man in einer Zeit, in der alles in der Kunst erlaubt ist, ausgenommen das Malen? Welche Überlegungen macht man sich darüber und warum malt man überhaupt weiter?
I. 1976 – 80 Prismen und Pfeilspitzen
Von 1976 bis 80 arbeitete ich an zwei Projekten.
Als Mitglied der Lichtgruppe King Kong experimentierte ich mit projiziertem Licht, wobei Filme, Dias oder farbiges Licht auf eine Leinwand oder Wand projiziert wurden. Oft geschah das bei Rockkonzerten.
Die Bilder, die auf diese Weise entstehen, sind oft so komplex, dass sie die Wahrnehmungs-fähigkeit bis an die Grenzen des Auffassungsvermögens herausfordern. Sie bewegen sich auf vielen sich unentwegt verändernden Ebenen, manchmal unendlich langsam, und manchmal leuchten sie nur für einen kurzen Moment auf, den man aber trotzdem erfasst und mit dem Rest der „Geschichte” verknüpfen kann.
Nun sehe ich, dass dieser Anfang ein außerordentlich guter Ausgangspunkt war, weil er mir zu wesentlichen Erfahrungen über das Entstehen von Bildern verhalf, die in mancher Hinsicht die Grundlage für meine spätere Arbeit mit der Malerei bildeten.
So erinnere ich mich beispielsweise an einen Abend, an dem ich einen Filmstreifen projizierte, den ich mit einer Nadel geritzt hatte. Es handelte sich um ein ganz schwarzes Stück Film ohne Bilder drauf, und ich ritzte mit der Nadel in jeden Bildabschnitt ein kleines, ovales Muster. Anschließend verspleißte ich den Film zu einer Schleife, so dass immer wieder dieselbe Sequenz gezeigt wurde. Wenn ich diesen ganz abstrakten Film ansah, entstanden eine Menge Bilder in meinem Kopf, eine Art Halluzinationen, die ich anschließend in meinem Tagebuch beschrieb:
21. Oktober 1977
Jetzt will ich versuchen, mich zu erinnern. Ritze, aufgelöste Ritze, Lichtmeer, rotierende Spirale, Tiere, ekelhafte Tiere wie ein schlechter Trip. Unendlicher, unendlicher Raum, wie durch Fäden gesehen, oder eine andere unwirkliche Landschaft, Meer, Meer, das sich sanft mit Sonne drauf bewegt, und dann Gesichter aus Stein, Gesichter von Menschen, die vor tausend Jahren lebten, schwarze Gesichter wie aus Stein, und dann Ritze, und wieder Ritze drauf, schnell. Kann nur ich diese Dinge sehen? Das würde ich gern einmal wissen. Wie kann es sein, dass ein Paar Ritze, die ich auf einen 30 cm langen Filmstreifen mache, zu solchen Bildern führen können, die ich selbst nicht begreife? Man muss seinen Augen Zeit lassen, denn man sieht es nicht sofort. Merkwürdig, solche Bilder zu machen.
Davon lernte ich etwas über den Austausch von Information zwischen Bild und Betrachter, und zwar in welchem Ausmaß der Betrachter – in diesem Fall anhand von sehr wenig Information – das Bild selbst erzeugt.
Ich entdeckte, dass eine Bildsequenz, wenn der Betrachter sich in den Prozess des Sehens engagierte und selbst an der Erzeugung des Bildes beteiligt war, für ihn interessant blieb. Bei einer Bildsequenz hingegen, die immer wieder ein sehr dramatisches Ereignis zeigt, wie z.B. riesige Lastwagen, die in einer Kurve ins Schleudern kommen, umkippen und explodieren, verliert der Betrachter schnell das Interesse und will etwas anderes, etwas Neues sehen. Das auf dem Bild Dargestellte allein genügt dem Betrachter nicht, um sich in einem Sehprozess zu engagieren.
Ich lernte zwar viel durch das Experimentieren mit Licht, aber das allein befriedigte mich nicht. Mir fehlte das physische Material, ich wollte einen Gegenstand mit meinen Händen formen, ich wollte den Geruch von Ölfarbe und Harz. Die Lichtexperimente besaßen auch nicht die Permanenz des Objektes oder Gemäldes, was mir mit den Jahren als immer größerer Nachteil erschien. Und so begann ich auch an einem ganz anderen Projekt, das sich immer mehr ausweitete.
Als ich mich 1977 um Aufnahme in die Kunstakademie bewarb, war es üblich, dass man für die Aufnahmeprüfung Zeichnungen und Gemälde einreichte, damit die Jury entscheiden konnte, ob man die grundlegende Technik beherrschte. Ich hatte also für diese Prüfung einige Jahre lang gemalt, mich aber nicht wirklich gefragt, was ich damit wollte.
So begann ich den ersten Tag an der Akademie als artige Schülerin, stellte Früchte, Flaschen und dergleichen auf meinem Arbeitstisch auf und machte ich mich daran, die Gegenstände zu zeichnen.
Bald schon stand ein kleiner älterer Mann neben mir und fragte mich mit einem etwas schiefen Lächeln: „Warum machst du das eigentlich?”
Das war Sven Dalsgaard, unser Professor. Seine Frage detonierte wie eine Wasserstoffbombe in meinem Selbstverständnis als Malerin. So wirkt bekanntlich Kritik, wenn sie ins Schwarze getroffen hat.
Es war die Frage nach der Relevanz der Malerei, mit der in diesen Jahren alle Studierenden an der Akademie konfrontiert wurden. Sie führte dazu, dass es mir für lange Zeit nicht mehr möglich war zu malen. Da ich Malerin bin war es eine sonderbar desperate, verwirrende und depressive Zeit. Ich bummelte herum, ohne wirklich zu wissen, was ich wollte. Irgendwann fing ich an, in ethnographischen Museen zu zeichnen. Ich zeichnete Werkzeug, Waffen und alle Arten von Geräten. Dann begann ich selbst, Werkzeug und Geräte herzustellen. Ich schmiedete Pfeilspitzen, Äxte, Messer und primitive Geräte für den Ackerbau. Ich baute Höhlen und formte große Schalen aus Gras und Ton, die ich mit Reis, Bohnen oder Korn füllte und ausstellte. Diese Werke gehörten meiner Auffassung nach zu der Kunstrichtung, die Spurensicherung genannt wurde und die eine Art Pseudoarchäologie war. Man stellte Ausgrabungen aus, Dinge, die man in der Erde gefunden hatte, oder einfach aufgeschriebene Erinnerungen an früher Erlebtes. Es liegt eine gewisse romantische Sehnsucht in diesem Projekt. Man sieht zurück, um etwas zu finden, das unterwegs verlorengegangen ist, ähnlich wie es in der Kunst und Literatur der Romantik der Fall war, die sich von der Vergangenheit oder von sogenannten primitiven Völkern anregen ließ.
Gleichzeitig produzierte ich Werke, die mehr Bilder der Zeit waren, in der ich lebte. Ich stellte Installationen mit Maschinenpistolen, Krähenfüßen, toten Ratten und zerbombten Städten her oder ich produzierte Body-Art, indem ich meinen Körper verschiedenen Einflüssen aussetzte und dann fotografierte.
Ich fasste die Objekte, die ich herstellte, als eine Art Ready-mades auf, weil sie eigentlich gewöhnliche Gegenstände waren, die ihre Bedeutung verlieren würden, wenn sie außerhalb des Kunstmuseums ausgestellt würden. Die Erzählung, die ich schuf, lag allein in meiner Wahl der Gegenstände.
Als ich Ende der 70er Jahre mehrmals ausstellte, führte die Konfrontation mit dem Publikum eine neue Problemstellung mit sich.
Ich fühlte, dass sich die Kunst damals ausschließlich an einen kleinen, exklusiven Kreis richtete, nämlich an Künstler und Kunstinteressierte, die im Voraus das erforderliche Hintergrundwissen besaßen, um aus den Werken Gewinn zu ziehen. Es war, als existierte die Kunstwelt völlig isoliert von der übrigen Gesellschaft, als handele es sich um einen besonderen Klub für Leute mit esoterischen Interessen.
Was es überhaupt möglich, die Leute im allgemeinen zu erreichen?
Als größtes Problem erschien mir damals das Museum beziehungsweise der Ausstellungsort. Ich stellte mir vor, man hätte schon eine Brücke zu den Leuten gebaut, wenn man einfach an Orten ausstellte, die nicht durch Kunst gekennzeichnet waren.
Ich musste also mein künstlerisches Projekt ändern. Es brachte ja in Wirklichkeit nichts, eine Axt oder anderes Werkzeug in einer leeren Fabrikhalle auszustellen. Wenn ich außerhalb der Kunstinstitution ausstellen wollte, musste ich sehen, ob es möglich war, etwas zu schaffen, dass auch draußen einen Wert, also einen Eigenwert, besaß.
Das war einer der Gründe, warum ich 1981 anfing zu malen.
II. 1981 – 1986
„What I see is what I see”
Ich begann wieder viel zu zeichnen, und auf dem Papier tauchten Tiere auf: das Pferd, der Vogel, der Hirsch und der Wolf.
In den folgenden zwei Jahren konzentrierte ich mich auf diese vier Figurationen, weil sie genau die Eigenschaften besaßen, nach denen ich gesucht hatte. Sie lassen sich als das betrachten, was sie sind: einfach als Tiere. Gleichzeitig sind sie aber auch jedes auf seine Art mit der Geschichte: der Literatur, den Mythen und einer bestimmten Maltradition aus dem 19. Jahrhundert, verbunden, und darauf wollte ich mich beziehen.
Am wichtigsten war für mich, dass man sie ohne ein bestimmtes Vorwissen betrachten konnte. Ich malte sie also nicht, um einen bestimmten Mythos oder ein besonderes historisches Ereignis zu illustrieren, sondern das Bild wurde einfach weitergereicht wie ein Staffelstab.
Mir ging es um eine direkte Beziehung zwischen Betrachter und Bild. Das Bild war erst fertig, wenn ein Betrachter kam und es mit seinem Wissen und seinen persönlichen Erfahrungen fertig dachte. In meinen früheren Experimenten mit dem Film und mit projiziertem Licht hatte ich versucht, das Auge des Betrachters in den Seh-Prozess zu engagieren. Nun wollte ich auch den Raum aus Gedanken und Erfahrungen des Betrachters engagieren, indem ich eine Sinnschicht hinzufügte, die der Deutung offen stand.
Um diesen direkten Austausch von Information zu optimieren, versuchte ich, den traditionellen Bildraum zu vermeiden, in dem der Betrachter ein Gemälde als Fenster auffassen kann, durch das er in einen Raum hineinguckt. In einem solchen Bild geschehen Dinge, die sich der Betrachter anschauen kann, an denen er aber keinen Anteil nimmt. Dergleichen interne Beziehungen auf der Bildfläche wollte ich vermeiden.
Interne Beziehungen auf der Bildfläche sind Erzählungen zwischen den einzelnen Teilen des Gemäldes. Sie können ausgesprochen narrativ sein oder aber aus koloristischen Wirkungen bestehen, beispielsweise einem dunkelblauen Pinselstrich, der fein abgestimmt gegen ein helleres Grün spielt, einem Gelb, das gegen Violet spielt, usw. Da ich diese internen Beziehungen vermeiden wollte, brauchte ich statt dessen Nicht-Farben, Farben, die in keiner Weise mit traditionellen koloristischen Gestaltungsmitteln in Verbindung gebracht werden. Ich arbeitete daher mit selbstleuchtenden Neonfarben, Spraydosen, Silber und Gold. Aus dem selben Grund besaßen meine Gemälde oft einen einfarbigen Hintergrund, waren Monochrome, auf die ganz flach und einfach das Motiv gemalt wurde. Denn ich hatte gewissermaßen die Ambition, das Monochrom – und alles, wofür es steht – zu gebrauchen und dann noch einen Schritt weiter zu gehen und ein Bedeutungsfeld einzusetzen, das wiederum eine Verbindung zur Geschichte und zur Tradition herstellt.
Dann wurde ich allerdings sehr schnell selbst von der Malerei verführt, von der konstanten täglichen Arbeit mit den Farben, bei der man immer wieder Licht und Schatten, Farben und Proportionen korrigiert.
Beim Malen wird das Auge konstant von einem kleinen Unterschied im Pinselstrich, einem kleinen Wechsel von Blau zu Rot, von Hell zu Dunkel herausgefordert, und ich entdeckte (wie Tausende von anderen Malern vor mir), dass durch dieses Phänomen ein Bild immer wieder neu und herausfordernd wirkt. Ich geriet hier auf eine Spur, auf der ich mich mehr und mehr mit den Problemstellungen auseinandersetzen musste, die mit der Malerei verbunden sind.
III. 1987
Als ich 1981 wieder zu malen begann, fand ich es problematisch, dass die Malerei nicht so schwer war wie die Objekte, mit denen ich Ende der 70er Jahre gearbeitet hatte.
Mir lag daran, zu zeigen, dass auch das Gemälde ein physisches Objekt im Raum ist. Ich ließ daher etwas vom Holz des Rahmens zum Vorschein kommen oder unterließ es, die Leinwand auf Rahmen zu spannen, und nagelte sie statt dessen an die Wand. Trotz dieser Versuche empfand ich jedoch, dass das Material der Objekte als solches, der getrocknete Schlamm, der rissige Lehm oder das rostige Eisen, eine stärkere physische Präsenz besaß.
Dies wollte ich nun durch eine Serie von Gemälden überwinden, die ich mit Skulpturen kombinierte. Die Skulptur sollte vor oder neben dem Gemälde im Raum stehen und ein integrierender Bestandteil des Gemäldes sein. Das Gemälde konnte beispielsweise eine öde und leere Landschaft sein, vor die ich eine Skulptur stellte, eine anthropomorphe Figur, die in diese Landschaft gehörte, die aus ihr hinausgegangen war oder sich auf dem Weg hinein befand.
Mit diesen Bildern verließ ich kurzfristig meine Intention, Bilder zu malen, die sich ohne ein bestimmtes Vorwissen betrachten lassen, denn ich begann nun, bestimmte Mythen zu illustrieren.
Ich befasste mich damals mit der griechischen, nordischen und keltischen Mythologie und verbrachte auch viel Zeit damit, das europäische Heidentum zu studieren, das mir als ein unbeschriebenes Blatt der europäischen Kultur erschien.
Es war, als gebe es einen Abschnitt in unserer Geschichte, zu dem einige Bilder fehlten. Die Tatsache, dass einige Bilder fehlen liegt ja eigentlich jeder Entstehung eines Bildes zugrunde. Es fehlen einige Bilder und die muss man dann malen. Obwohl mich dieses Projekt sehr anregte, sah ich doch schnell ein, dass man heute nicht mehr davon ausgehen kann, dass es eine Summe von gemeinsamem Wissen gibt, auf das man sich ohne weiteres beziehen kann.
IV. 1988-89 Das Loch in der Wand
1988 und 89 arbeitete ich an zwei sehr unterschiedlichen Projekten.
Das erste Projekt war eine Untersuchung des Originalwerks.
Ich malte eine Serie großer Gemälde, die ich so gleich wie möglich zu machen versuchte. So malte ich beispielsweise drei große Landschaften, auf denen im fernen Dunst kleine undeutliche Figuren zu sehen waren, die sich als Tiere oder Menschen auffassen ließen.
Diese drei Landschaften sollten nebeneinander ausgestellt werden, und gerade ihre scheinbare Gleichartigkeit akzentuierte die kleinen Unterschiede, die der handgemalte Pinselstrich zwischen ihnen schuf, der sie sozusagen unterstrich. Ich stellte mir die Frage, ist es möglich, die „Aura” eines Werkes zu reproduzieren, ein Kunstwerk zu wiederholen?
Was genau macht das eine Werk zu Kunst und das andere nicht? Solche Fragen lassen sich vielleicht erörtern, beantworten lassen sie sich nicht.
Mit dem zweiten Projekt ging es darum, einen Raum aus verschiedenen Winkeln zu definieren.
In der Serie „Die Landschaft der Monumente” beschreibe ich einen öden, offenen Landschaftsraum, in dem Statuen aufgestellt sind. Ich bewege mich in die Landschaft hinein wie in einen Film, sehe die Statuen weit weg auf einem Höhenzug, nähere mich ihnen allmählich, sehe ihre langen Schatten auf das Feld fallen und einen umgefallenen Baumstamm treffen. Es ist etwas geschehen in der Landschaft. Ein parkendes Auto, ein Gespräch. Wichtig daran war für mich, dass ich im Landschaftsraum war, mich in ihm herumbewegte, ihn schilderte. Ich war nicht mehr gezwungen, auf der Oberfläche der Leinwand zu bleiben, sondern konnte im Gemälde eine Illusion von Raum schaffen.
Auch in der Serie „Fraktalbilder” beschäftigte ich mich mit dem Raum. Hier hingegen bewegte ich mich immer tiefer direkt in das Bild hinein.
Ich malte zuerst ein Bild, das Fragment eines größeren Bildes hätte sein können. Es zeigt eine Terrasse, auf der einige ethnographische Gegenstände stehen. In der einen Seite des Bildes sitzt eine Frau. Es sind lediglich die Hälfte ihres Kleides und eine Hand zu sehen. Die Mitte des Bildes gibt den Blick frei auf eine Landschaft mit Bergen im Hintergrund. Dieses mittlere Segment vergrößere ich nun im nächsten Bild, male es in derselben Größe wie das erste und sehe, was darauf ist. Es sind Statuen. Dann vergrößere ich wiederum das mittlere Segment dieses Bildes und sehe nun nahe bei den Bergen merkwürdige tanzende Menschen in Rokokokostümen. Dann vergrößere ich auch noch das mittlere Segment dieses Bildes und bin nun ganz oben auf dem Gebirgskamm angelangt, wo eine schwarze Figur steht und uns anstarrt.
Im Prinzip hätte ich das Bild immer weiter in die Landschaft hinein vergrößern und malen können.
Ich hatte zwei Vorbilder für dieses Projekt. Das eine war Michelangelo Antonionis Film „Blow Up”, in dem der Fotograf einen Mord entdeckt, als er eine Fotografie immer weiter vergrößert, bis er die Hand mit dem Revolver sieht, und das andere war die Sequenz in „Blade Runner”, in der Deckard das „Familienfoto” eines Replikanten auf dem Computer vergrößert und ganz tief im Hintergrund der Fotografie eine entscheidende Spur entdeckt. Nicht zuletzt waren natürlich Fraktale das Vorbild. Nicht Fraktale als Bilder, sondern die räumliche Idee, die die Fraktale repräsentieren, nämlich ein Zoom in eine komplexe Struktur, die neue Universen ins Unendliche generiert.
Für mich war dies ein Einstieg in eine relativ unbeschwerte Arbeit mit dem Raum in der Malerei und mit der Illusion des unendlichen Raums.
V. 1990-96
In den 90er Jahren war die Malerei extrem unmodern geworden. Sie wurde fast gar nicht zur richtigen Kunst gerechnet. Wie in den 70er Jahren hieß es nun wieder „Die Malerei ist tot”. Installationen und Videos eroberten nun die Kunstszene, auch wie in den 70ern, lediglich mit dem Unterschied, dass diese Kunstformen in den 90er Jahren institutionalisiert wurden.
Es ist schwer, sich dem Einfluss von Strömungen im eigenen Bereich zu entziehen. Die Entwicklung in der Kunstszene der 90er Jahre brachte mich dazu, den fast genau entgegengesetzten Weg einzuschlagen: ich fing an, mich ausschließlich auf die Malerei zu konzentrieren. Was ließ sich in der Malerei machen, was konnte ich malen?
Um malen zu können, musste ich zu einer mehr formalisierten Arbeitsweise greifen. Meine Bilder aus diesen Jahren sind daher hauptsächlich Monochrome in gräulichen oder bräunlichen Farben, in deren Mitte ein kleines figuratives Bild ist.
Mit dieser Form waren viele Probleme gelöst. Ich konnte die große einfarbige Fläche als einen flachen Kasten auffassen, als ein Objekt im Raum, das eine physische Präsenz schuf. Das „Kassenhafte” unterstrich ich durch sehr kräftige Rahmen.
Ich fühlte, dass ich mit der Wahl der monochromen Fläche einen Kreis um mich herum in den Sand zog. Innerhalb dieses Kreises, in diesem kleinen, begrenzten Bereich, hatte ich die Freiheit, genau das zu tun, was ich wollte.
Nun probierte ich mit dem kleinen, sehr konzentrierten Bild in der Mitte alles aus, was die Malerei kann, womit man sich aber nicht beschäftigen „durfte”.
Ich arbeitete mit der Illusion eines unendlichen Raumes und mit alten Maltechniken wie Lasur, Grisaille und Pointillismus. Die Figuration – kann man das malen? Kann man das Licht malen, das eine einzige Nanosekunde auf das Wasser fällt? Kann man überhaupt andere Galaxien malen? Kann man wie Claude Lorrain die Sonne in der Landschaft malen oder einen Vulkanausbruch, einen Toten, der wieder erscheint, ausrangierte Eisenbahnwagen und Themen, um die das Tabu einen Kreis aus Feuer schlug? Die Antwort, die ich die ganze Zeit im Kopf hatte, hieß: mach es nur gut genug, dann lässt es sich auch machen.
VI. 1997, In den Schrank
1996 geriet ich mit meiner Malerei dann doch allmählich ins Stocken. Ich malte zwar jeden Tag, es war aber eher ein desperater Reflex, und die meisten Leinwände versandeten. Ich sagte mir, der Grund läge in der generellen Krise der Malerei, was sicher auch ein Stück Wahrheit war.
Ein anderer Grund kann jedoch gewesen sein, dass ich angefangen hatte, Menschen zu malen.
Im 20. Jahrhundert ist es mit riesigen Schwierigkeiten verbunden, einen Menschen zu malen, zu zeichnen oder sonstwie wiederzugeben. Das liegt natürlich nicht an mangelhaftem technischen Können, denn die Künstler, die nicht das Gesicht eines Menschen zeichnen „können”, können problemlos alles andere zeichnen. Es gibt einen schwer verständlichen und schwer zu beschreibenden Widerstand, als gäbe es ein unbewusstes, ungeschriebenes ikonoklastisches Verbot, das nicht übertreten werden darf.
Auch ich war mir dessen nicht bewusst, als ich auf diesen Widerstand stieß. Es gab hier einfach etwas, was sich nicht malen ließ.
Irgendwann male ich eine Reihe von Männern im Profil. Ich versuche, sie auf alle möglichen Arten zu malen. Sie „wollen” aber nicht gemalt werden. Schließlich gehe ich statt dessen mit dem Foto, nach dem ich male, in eine Druckerei und erkundige mich, ob sie es auf eine Leinwand drucken können. Vielleicht besteht die Lösung darin, dass ich das Bild nicht mit der Hand male, sondern eine mechanische Reproduktion des Fotos herstellen lasse.
Dazu kam es jedoch nie. Ich malte auch fast ein Jahr lang nicht mehr. Ich verkaufte mein Atelier und packte alles weg. Dann setzte ich mich in meinen Keller und machte kleine „heimliche” Sachen „für mich selbst”.
Ich fing wieder an, Menschen zu malen, und stellte kleine realistische Porträts her. Sie waren aber „heimlich” und nur dazu da, um in kleine Schränke eingeschlossen zu werden. Ich malte auch den Himmel, wenn ich Lust dazu hatte. Oder ich ging, Malkasten und Staffelei auf einem Schlitten hinter mir herziehend, in die Winterlandschaft hinaus, setzte mich in den Schnee und malte, nur um zu wissen, wie es war und ob es sich machen ließ.
Zu diesem Zeitpunkt gab es keine Erwartungen an die Malerei, keine Regeln dafür, wie es auszusehen hatte. Die Malerei war zu einem freien Raum geworden.
Ich war schließlich auch der ewigen Skepsis der Malerei gegenüber gründlich müde geworden. Seit den ersten Tagen in der Akademie hatte ich sie mir angehört, und nun in den 90er Jahren wurde sie wieder sehr deutlich geäußert.
Ich wollte malen und mochte mir alle diese Einwände nicht mehr anhören. Dann traf ich eine etwas merkwürdige Übereinkunft mit mir selbst: Ich erlaubte mir, nicht mehr dazu zu gehören, nicht mehr Künstlerin zu sein. Ich war Malerin und wollte jetzt genau das malen, wozu ich Lust hatte. Das war mein Ausgangspunkt, als ich 1997, 98 anfing, meine großen Leinwände zu malen.
Wenn ich in einem Arbeitsprozess stecke, ist es mir nicht möglich, über das, was ich da tue, zu reflektieren und mich dem Material gegenüber bewusst zu verhalten. Das Bild soll sich selbst malen in einem Prozess, der nichts mit der verbalen Sprache zu tun hat. Im Gegenteil, die verbale Sprache schließt meinen Zugang zu dem Ort aus, wo ich in Bildern denke kann.
Deshalb versuche ich nie, über Bilder zu sprechen, an denen ich gerade arbeite. Es wäre destruktiv für den weiteren Arbeitsablauf.
Die Bilder, an denen ich seit 1997 arbeite, gehören zu dem laufenden Prozess, von dem ich mich nicht distanzieren kann. Deshalb kann ich auch nicht darüber schreiben. Ich schließe also hier die Überlegungen über meine eigene Malerei und schließe einige eher generelle Überlegungen zur Malerei an.
Distanz 2
Mit dieser Ausstellung und diesem Text blickte ich auf meine Produktion zurück und versuchte, meine künstlerische Arbeit zu beschreiben. Ich stellte folgende Fragen zur Malerei, die aber unbeantwortet bleiben:
Warum< war es so wichtig, zu betonen, dass das Gemälde ein physisches Objekt im Raum ist: Warum musste deshalb der Rahmen sichtbar belassen, die lose Leinwand an die Wand genagelt, das Gemälde mit einer Skulptur kombiniert oder durch sehr kräftige Rahmen zu einem „Kasten” gemacht werden? >Warum war es problematisch, in dem Gemälde eine Illusion von Raum herzustellen?
Und warum bestand die Auffassung, es läge an einer Eigenschaft der Malerei, dass das Malen tabu war?
Eine Antwort ist möglicherweise in der Geschichte der Mimesis zu finden, der Nachahmung der Wirklichkeit durch die Kunst.
Aber diese Geschichte ist keine überschaubare lineare Erzählung, sie ist ein verwickeltes Chaos, eine komplizierte Struktur aus voneinander abhängigen Bewegungen, die sich spiralförmig ineinander und auseinander flechten, die wieder zurückgehen und etwas aufsammeln, die Ausnahmen, Sackgassen und Abweichungen machen.
Ich betrachte dieses Chaos mit einer einzigen Optik: der maßstäblichen Beziehung – wohl wissend, dass dies das Risiko der Übervereinfachung birgt, denn die erwähnten Werke enthalten auch viele andere Bedeutungen. Diese Optik, die sieht, in welchem Maßstab sich die Werke zur sichtbaren Wirklichkeit verhalten, ist aber gleichzeitig meine Pointe
Mimesis
Mit den dünnen Haaren des Pinsels wird die Farbe aufgesaugt und auf einer Fläche wieder abgewischt. Die Farbe ist ein bestimmtes Material: Sie ist getrocknete, mit einem Bindemittel vermischte Erde und hat eine physische Präsenz wie ein Gegenstand, der sich berühren lässt.
Sie kann aber gleichzeitig auch etwas darstellen. Sie kann ein Bild schaffen, das auf ein Wissen des Betrachters verweist.
Dieses Wissen kann in der sichtbaren Welt existieren und gehört deshalb anscheinend einer zeitübergreifenden gemeinsamen Erfahrung an. Obwohl wir nicht die Bedeutung der Malereien in der Lascaux-Grotte verstehen, können wir die auf die Felswand gemalten Tiere wiedererkennen. Wir wissen, dass es diese Tiere damals gab und dass dieselben Arten 15.000 Jahre später in unserer eigenen Zeit immer noch existieren.
Anders verhält es sich mit den geometrischen Mustern auf Töpfen und Schalen aus dem Neolithikum. Was für uns wie ein Mäanderband mit dekorativer Wirkung aussieht, war für den Steinzeitmenschen ein spezifischer Hinweis auf eine bestimmte Göttin. Jeder Gott und jede Göttin hatten bestimmte unverwechselbare Zeichen oder Muster. Dieses Muster verwies auf das Göttliche, auf eine über den Menschen gestellte Ordnung, und der einzelne Mensch, der mit dem Pinsel das Muster malte, konnte es auch nicht nach Gutdünken ändern, genauso wenig wie ein Kartograph, der eine Bergkette zeichnet, sie etwas länger zeichnen kann, weil er findet, dass das auf der Karte besser aussieht.
Das Muster, so könnte man fast sagen, wird aufgestempelt.
In der ägyptischen Kunst werden sichtbare Bilder der Götter geschaffen – keine Muster, die auf die Götter verweisen, sondern Bilder, die die Götter darstellen. Die Herstellung des Bildes geht von einem festen Schema aus, das bestimmte unabänderliche Maße für menschliche Proportionen und genaue Regeln für die Beschreibung räumlicher Verhältnisse vorgibt.
Dieses Schema hat genau dieselbe Funktion wie die Muster in der neolithischen Kunst. Es besagt, dass der Handwerker, der das Werk ausführt, bestimmten Anweisungen zu folgen hat. Als Individuum ist er ohne jede Bedeutung dem Gott gegenüber, dessen Bild er schafft.
Trotz des Unterschieds zwischen einem Muster, das auf den Gott verweist, und einem Muster, das den Gott darstellt, wird auch in der ägyptischen Kunst das Bild sozusagen aufgestempelt.
Dieser Stempeleffekt wird in der frühen christlichen Kunst weitergeführt, wenn auch nicht in einer solch rigiden Form wie in der ägyptischen, so doch als ein Muster, das auf das Göttliche verweist.
Wenn Giotto das feste Schema für die Herstellung eines Bildes, das Muster, das von der Hand eines unbekannten Handwerkers „aufgestempelt” wird, verlässt, so bedeutet dies eine ikonoklastische Handlung. Giotto zeigt uns nämlich keinen heiligen Gegenstand, der angebetet werden kann, sondern die Rückseite des Kruzifixes, das heißt ein paar kreuz und quer zusammengenagelte Holzstücke. Das Bild ist nicht = Gott.
Anstatt Ikonen zu schaffen, die mit Gott verwechselt werden können, schafft Giotto Bilder der sichtbaren Welt. Er zeigt, was Gott geschaffen hat.
Nun wird es zum Ideal, diese sichtbare Welt so genau wie möglich zu schildern, weil man dadurch sowohl das Schöpfungswerk preist wie sich als Individuum dem „Muster” unterwirft, das sich durch die sichtbare Welt offenbart.
Obwohl das Ideal in der größtmöglichen Ähnlichkeit mit der sichtbaren Welt besteht, so ist das neue „Muster” doch kein gemeinsames, weil es von einem Individuum konzipiert wurde.
Das Werk tritt an die Stelle des Musters.
Denis Diderot, Salon 1763: „…Auf dem Salon gibt es mehrere kleine Bilder von Chardin. Fast alle stellen Früchte dar, umgeben von Dingen, die zu einer Mahlzeit gehören. Es ist die Natur selbst! Die Dinge sind aus der Leinwand getreten und haben eine Leibhaftigkeit erhalten, die das Auge betrügt. Das Werk, das man beim Hinaufgehen der Treppe sieht, verdient besondere Aufmerksamkeit. Der Künstler hat hier auf einem Tisch einen Topf aus altem chinesischem Porzellan, zwei Trockenbrote, ein mit Oliven gefülltes Glas, eine Pomeranze und eine Pastete aufgestellt. Wenn ich die Bilder anderer Maler betrachten will, ist es, als müsste ich zuerst die richtigen Augen finden; wenn ich aber Chardins Bilder betrachten will, kann ich einfach die Augen behalten, die die Natur mir gegeben hat, und sie gebrauchen……Es ist so, dass dieser Topf wirklich aus Porzellan ist; dass diese Oliven wirklich vom Auge getrennt sind durch das Wasser, in dem sie liegen; dass man dieses Trockenbrot einfach nehmen und davon essen muss, dass man diese Pomeranze nehmen, sie aufschneiden und den Saft aus ihr herauspressen muss, dass man dieses Weinglas nehmen und trinken, diese Früchte nehmen und schälen, das Messer in diese Pastete stecken muss.
Hier ist der Mann, der sich auf das Zusammenspiel und die Widerspiegelungen der Farben versteht. O Chardin: du reibst nicht Weiß, Rot und Schwarz auf deine Palette, sondern die Substanz der Dinge selbst! Es sind Luft und Licht selbst, die du auf die Spitze deines Pinsels nimmst und auf die Leinwand aufträgst!“
Ist die wirklichkeitsgetreue Abbildung der sichtbaren Welt erst einmal zum Ideal geworden, ist diese Spur erst einmal gelegt, dann ist sie anscheinend die Richtung.
Das Bestreben der Malerei, die Wirklichkeit so genau wie möglich wiederzugeben, führt zu einem Resultat, das man als eine Art Vergrößerung auffassen kann. Es wird auf die Farbe gezoomt, bis nur noch ein großes blaues Monochrom oder aber die rohe Leinwand übrig ist. Das Material, aus dem das Gemälde geschaffen ist, repräsentiert nichts anderes als sich selbst. Der pastose Farbklecks stellt nur sich selbst dar: mit Leinöl verrührtes geriebenes Pigment. Farbe = Farbe. Die rohe Leinwand = die rohe Leinwand.
Das Gemälde hat ein Verhältnis von 1:1 zur Wirklichkeit erlangt.
Wenn Yves Klein Monochrome schafft, in denen Blau = Blau ist, ist die Farbe nichts als sie selbst: eben Farbe. Und wenn er die Figur eines Menschen abbildet, tut er es, indem er den Körper einer Frau blau anmalt und ihn auf die Leinwand stempelt in einer Anonymität, die sich mit dem gestempelten Muster in der ägyptischen und byzantinischen Kunst vergleichen lässt, nur ist die Figur hier in einem Verhältnis von 1:1 abgebildet: Mensch = Mensch.
Es ist schwieriger, mit pastoser Farbe zu „stempeln”. Die Farbe muss irgendwie auf die Leinwand aufgetragen werden.
Die Art, wie die Farbe auf die Leinwand aufgetragen wird – sei es, dass sie in einer einzigen großen Bewegung auf die Leinwand gestrichen oder vielleicht eher in schnellen, sich wiederholenden Bewegungen mit dem Pinsel oder dem Spachtel geworfen wird – die Geste, die in der weichen dicken Farbschicht zu sehen ist, verweist auf das Gefühl des Menschen, der den Abdruck gemacht hat. Der Abdruck repräsentiert das Gefühl des malenden Subjekts in einem Verhältnis von 1:1.
Das Bestreben, die Wirklichkeit genau wiederzugeben, wird im Realismus zu dem Bestreben, die Kunst wirklicher zu machen. Dies führt letztendlich dazu, dass nicht das Bild eines Gegenstands, sondern der Gegenstand selbst ausgestellt wird.
Die Gleichung heißt nun: Kunst = Wirklichkeit. Das ist eine langsame Entwicklung, die vielleicht mit Rodins Skulpturen begonnen hat, wo der Stein an einigen Stellen ganz roh und unbearbeitet bleibt. Der Stein stellt nur sich selbst dar. Stein = Stein.
Mit der kleinen Ballerinafigur, die er 1880 ausstellt, vollführt Edgar Degas einen kunsthistorischen Quantensprung. Als er sie zum ersten Mal ausstellt, ist sie in Wachs modelliert, trägt ein richtiges Tüllröckchen und eine Perücke aus Menschenhaar, und ihr Gesicht ist nicht mit den Farben des Malers gemalt, sondern mit Kosmetik geschminkt und gepudert.
Mit dem Flaschentrockner, den Marcel Duchamp 1914 ausstellt, etabliert er ein unzweideutiges Verhältnis von 1:1 zwischen Ausstellungsgegenstand und der Welt, auf die der Gegenstand hinweist. Wenn dieses Verhältnis von 1:1 erst einmal seinen Einzug gehalten hat, gibt es keine Grenzen mehr für das, was sich ausstellen lässt. Dieser bequeme Maßstab dominierte nahezu uneingeschränkt die Kunst der 90er Jahre.
Der 1:1-Realismus kulminierte in den 90er Jahren auf mehreren Gebieten zugleich.
In der Literatur wurde nach dem großen Gegenwartsroman gerufen und gleichzeitig boomte der Markt für Biographien. Bücher über „wirkliche” Menschen, die richtig gelebt haben, waren gefragt.
Im Fernsehen wurde in unzähligen Variationen Reality-TV gesendet, wo Menschen als sie selbst auftreten.
Auf den Bühnen wurden Stücke gespielt, in denen die Personen keine Schauspieler sind, sondern Menschen, die sich selbst „spielen” und ihre Lebensgeschichte erzählen.
Das Dogmenkonzept schließlich lässt sich als Bestreben auffassen, auch im Film ein höheres Maß an Realismus einzuführen und dem übermäßig stilisierten Spielfilm eine dokumentarische Note zu verleihen.
Fotografie
Wenn die objektive Schilderung der sichtbaren Welt zum Ideal erhoben wird, ist die Fotografie das allen anderen überlegene Medium.
In der Fotografie manifestiert sich ein Stempeleffekt, der an die sich wiederholenden Muster der neolithischen, ägyptischen und byzantinischen Kunst erinnert. Ein Foto lässt sich immer wieder reproduzieren, ohne Unterschied zwischen dem ersten und den folgenden Bildern. Es spielt auch keine Rolle, wer für die Entwicklung des Bildes verantwortlich ist.
Das Licht, das durch das Objektiv fällt und einen kurzen Augenblick lang auf die Emulsion des Films im Kameragehäuse einwirkt, ist das Licht, das zu dem entsprechenden Zeitpunkt an dem entsprechenden Ort war. Das Licht ist sozusagen das, was geschehen ist.
Das ist der Realismuseffekt der Fotografie. Wenn wir eine Fotografie sehen, dann wissen wir, dass das, was auf dem Bild ist, tatsächlich da war und so aussah. Obwohl wir genau wissen, dass einige der berühmtesten Ikonen der Fotografiegeschichte möglicherweise arrangiert waren, wie beispielsweise Capas Bild des sterbenden Soldaten aus dem spanischen Bürgerkrieg, so besaß die Fotografie eine Glaubwürdigkeit, die erst jetzt ernstlich durch vom Computer manipulierte Bilder untergraben wird.
Das Problem der fotografischen Bilder ist die Art, wie sie den Raum beschreiben. Auf Fotografien sieht der Raum oft mehr oder weniger verzerrt aus. Das liegt an den geometrischen Gesetzen, an die die Fotografie gebunden ist. Sie erlauben nur einen einzigen Punkt, von dem aus man das Bild betrachten kann, ohne dass der Raum verzerrt erscheint. Dieser Punkt liegt in der Regel nahe an der Fotografie. Das heißt, streng genommen zeigt die immense Anzahl von Fotografien, die wir tagtäglich sehen und unmittelbar als objektive Wiedergaben der sichtbaren Wirklichkeit akzeptieren, ein verzerrtes Bild dieser sichtbaren Wirklichkeit.
Die Fotografie ist mit anderen Worten überhaupt nicht dazu geeignet, räumliche Gegebenheiten zu beschreiben.
Hat es überhaupt eine Bedeutung für uns, wie der Raum beschrieben wird?
Was will es überhaupt heißen, Räume zu beschreiben?
Über Räume
Die Art, wie in einer bestimmten Zeit der Raum beschrieben wird, ist eine präzise Darstellung der Beziehung des Menschen zur empirischen Wirklichkeit und zum Metaphysischen.
An den Wänden der Lascaux-Grotte sind die Tierfiguren oft als Umrisse gemalt, die nicht mit Farbe ausgefüllt sind. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als seien die Figuren überhaupt nicht räumlich aufeinander bezogen, weil sie übereinander gemalt wurden, als sei es dem Maler gleichgültig gewesen, dass schon etwas auf die Felswand gemalt war. Folglich kann man durch die einzelne Figur hindurchsehen auf das, was früher einmal gemalt wurde. Man kann also in die Vergangenheit zurücksehen. Mit einem Blick kann der Maler erfassen, was die Vorfahren geschaffen haben, und was er selbst hinzugefügt hat. Die Figuren beziehen sich aufeinander in einem nicht definierten fließenden Raum, der die Zeit und die Geschichte des Stammes beschreibt.
Wenn Vermeer einen Raum malt, in dem das Licht weich durch das Fenster fällt, führt er ein maßstäbliches Verhältnis zur sichtbaren Wirklichkeit ein. Mit dem gleichen Maß an Objektivität, mit dem ein Kartograph eine Landkarte zeichnen würde, schafft er ein kleines Modell von etwas Größerem, hier nur mit der dritten Dimension: der räumlichen.
Lucio Fontana macht einen Schnitt, einen Ritz, in die rohe Leinwand und führt dadurch ein räumliches Verhältnis ein. Diese Handlung bedeutet einen Bruch mit der Materialität der Fläche. Hinter der physischen Oberfläche gibt es eine Dunkelheit, eine Immaterialität. Hier beginnt etwas Neues in der Raumschilderung der Malerei.
Der Raum, den das Gemälde beschreibt, ist eine Metapher für den Raum, in dem wir leben. In einer Form, die ein Behälter für unser Gefühl sein kann, wird hier sichtbar gemacht, was vorher unsichtbar war. Wenn wir die Form sehen, erkennen wir sie als unser eigenes Gefühl wieder und verstehen sie gleichzeitig auf eine Art, die uns die Fähigkeit gibt zu agieren.
Steine, die in der Megalithkultur kreisförmig in eine Landschaft gesetzt wurden, bezogen sich auf den größten Raum: den Abstand zu Sonne, Mond und Sternen. In unserer Zeit bezieht sich das ungemachte Bett Tracey Emins auf den konkreten physischen Raum, der zwischen uns und dem Werk in einer 1:1-Beziehung besteht.
Die Frage ist, ob wir immer noch die 1:1-Beschreibung des Raums in der Gegenwartskunst als die Beschreibung des Raums wiedererkennen, in dem wir leben.
Karte und Labyrinth
Aufgrund der neuen Technologie und wissenschaftlicher Entdeckungen besitzen wir ein Wissen über die Welt, das die Menschen vor uns nicht kannten.
Wir wissen, wie sich die Erde in den letzten 5 Milliarden Jahren entwickelt hat, wir haben jeden einzelnen Nebenfluss des Amazonas kartiert, wir kennen die Konsistenz des Staubs auf fernen Planeten, wir können die Schriftsprache von Kulturen deuten, die vor tausend Jahren zugrunde gegangen sind, wir können die winzigsten Bestandteile des Atoms beschreiben und wir können uns in diesem Raum von Wissen frei bewegen; wir können uns auch über geographisch große Abstände hinweg frei bewegen.
Dieses Wissen über die Welt, oder das Wissen über das Wissen, besteht als Raum in jedem einzelnen Menschen. Dieser einzelne Mensch wiederum ist selbst ein labyrinthischer Raum von persönlichen Erlebnissen, Erinnerungen, Träumen und Verdrängungen.
Ich verstehe, dass ich in einem unendlich komplexen labyrinthischen Raum lebe, der sich öffnet und in alle Richtungen entfaltet.
Wenn die Welt ein labyrinthischer Raum ist und der Künstler ein Kartograph, der diesen Raum beschreiben soll, dann entspricht das Verhältnis von 1:1 der Tatsache, dass der Künstler unten im Labyrinth steht und die Wände des Labyrinths beschreibt.
In der Malerei ist es möglich, diese räumliche Komplexität, in der wir leben, zu beschreiben und mit einem Blick einen Raum sichtbar zu machen, der in vielen Schichten existiert, der labyrinthisch, unendlich und gleichzeitig flach wie ein physischer Gegenstand ist. Die Malerei kann diesen Raum in einem anderen Maßstab als dem Verhältnis von 1:1 beschreiben, sie kann eine Distanz etablieren.
Wer sich ohne Karte durch eine Landschaft bewegen will, findet nur mühsam den Weg. Er versucht es auf gut Glück und kann keine langfristigen Pläne machen.
Wer aber ein Labyrinth zeichnen will, muss es von oben sehen.