DER RAUM DER GESCHICHTE
(DEUTSCH) Über Nina Sten-Knudsens polyfokale Gemälde 1998-2006
Von Cecil Bojsen Haarder
„Der Raum ist weder im Subjekt, noch ist die Welt im Raum“(Heidegger, Sein und Zeit, 2001, S. 111)
Alle Werke dieser Ausstellung sind polyfokale Gemälde. Polyfokal bedeutet, dass der Bildraum mehrere Fluchtpunkte besitzt. Mit ihren polyfokalen Gemälden markiert Nina Sten-Knudsen einen Abstand zu der Zentralperspektive der Renaissance, da diese der Künstlerin zufolge an eine geschlossene, statische Deutung der Umgebung gebunden ist. Anders als die Zentralperspektive, bei der die Motive einer mathematischen Konstruktion untergeordnet sind, in der alle Linien in einem zentralen Fluchtpunkt zusammentreffen, geht es in Nina Sten-Knudsens Bildern um ungleichartige Räume mit einer unbegrenzten Anzahl von Fluchtpunkten und Bruchflächen.
Der Betrachter, der vor den riesigen Leinwänden steht, wird entdecken, wie von einander unabhängige Räume miteinander kollidieren und sich überlappen je nachdem, wie sein Körper und damit sein Blick sich hin und her bewegen. Der Bildraum wird nicht im Voraus definiert, sondern seine Entstehung und Veränderlichkeit sind stark daran gebunden, wie wir ihn erleben und mit ihm in Interaktion treten. Diese Wechselbeziehung zwischen Werk und Betrachter ist am besten im Licht der Phänomenologie zu verstehen, die ihr Augenmerk eben auf die unverbrüchliche Beziehung zwischen Subjekt und Objekt richtet. Wenn wir versuchen, die Welt als isolierte Größe zu betrachten, entgleitet uns die Wirklichkeit und wir stehen mit abstrakten und leeren Begriffen da. Beziehen wir hingegen unser eigenes Engagement und unser Sein in der Welt als unumgänglichen Faktor mit ein, so wird sich uns die Welt in ihrer uneingeschränkten Vielfalt offenbaren.
Da ein wichtiger Teil unserer Wahrnehmung der Umwelt an Räume gebunden ist, sind sie von großer Bedeutung für die Phänomenologie. Heideggers Behauptung in Sein und Zeit, es gebe weder den Raum im Subjekt noch die Welt im Raum, ist so zu verstehen, dass Räumlichkeit an die Begegnung zwischen uns und unserer Umgebung: an unser Sein in der Welt gebunden ist. Genauso bedarf der Raum in Nina Sten-Knudsens Gemälden unserer Teilnahme, um existieren zu können. Weil das Gemälde einen Raum präsentiert, den es nur in dem Maße gibt, in dem wir mit unseren Sinnen daran teilhaben, betont es unsere Bindung an die Welt und damit an den Raum. Deshalb hat das Gemälde eine entscheidende Bedeutung für unsere Verankerung in der Welt und in der Geschichte.
Auf den folgenden Seiten werden die acht Gemälde der Ausstellung in Texten vorgestellt, die jeder für sich allein, aber auch als zusammenhängendes Ganzes gelesen werden können. Ihr gemeinsames Fundament ist dabei die oben skizzierte phänomenologische Auffassung des Bildraums, die als Gepäck dienen mag auf der Reise in Nina Sten-Knudsens wundersames polyfokales Universum.
MUSEUM
„Ich verstehe es so, dass wir in einem unendlich komplexen, labyrinthischen Raum leben, der sich öffnet und in alle Richtungen entfaltet.“ (Nina Sten-Knudsen 2004, S. 45)
Das erste, was ins Auge fällt, ist Licht, ein fahler Turnerscher Nebel, der sich in den dunklen Raum ergießt und die Details verschleiert. Der Betrachter befindet sich in einem unüberschaubaren, labyrinthischen Interieur, das Blick und Gedanken in unterschiedliche Richtungen lenkt. Architektonische Fragmente überlappen sich oder stoßen zusammen wie in einer Collage. Eine Kirche. Ein Museum. Oder das Atelier der Künstlerin selbst. Nichts ist sicher oder scheint sich erschöpfend erklären zu lassen.
Während sich das Auge allmählich an die Dunkelheit gewöhnt, taucht ein Gegenstand nach dem anderen auf: Krüge, Vasen, Puppen, Fotoapparate, Musikinstrumente und ausgestopfte Vögel kämpfen miteinander um unsere Aufmerksamkeit wie in einem Museum, in dem niemand Ordnung geschaffen oder das Material in Jahrhunderte kategorisiert hat. Die ausgestellten Gegenstände gleichen sich darin, dass sie Erinnerungen und Assoziationen erwecken, die uns hin- und herwandern lassen in unserem eigenen persönlichen Leben und in einer gemeinsamen kulturellen Vergangenheit. Wie in einem gigantischen holländischen Still-Leben gemahnt hier jeder Gegenstand an den unaufhörlichen Gang der Zeit. Bei Nina Sten-Knudsen ist der Raum eine dynamische Dimension: Je mehr der Betrachter die Elemente entdeckt, aus denen der Raum besteht, und sich in diese vertieft, desto mehr weitet dieser sich aus. Die Dinge dürfen deshalb ihre Autonomie behalten und genau das Maß an Aufmerksamkeit auf sich ziehen, das der jeweilige Betrachter in sie investiert. Größenverhältnisse und Tiefenschärfe wirken zufällig und lassen sich nicht durch den Abstand der Objekte von dem Betrachter erklären, sondern funktionieren eher als Illustration seines wechselnden Engagements. Man kann nicht alles auf einmal überschauen. Der Raum braucht Zeit.
Auch die Erinnerung an die Meister der Kunstgeschichte wird ins Spiel gebracht in diesem gewaltigen Museum, dessen Stil und Motiv zurückdenken lassen an Poul Cézanne, Giovanni Battista Piranesi, William Turner oder die holländischen Meister des 17. Jahrhunderts. Überall tauchen zwischen den Gegenständen kleine Miniaturbilder auf, die wiederum die Gedanken auf Wanderschaft gehen lassen und Groß und Klein durcheinander bringen. Nina Sten-Knudsen hat ihre Vorgänger auf dieselbe Art in ihr Bild gemalt, wie wir uns selbst in ihren komplexen Bildraum malen können. Palette, Pinsel und Farben stehen am Rand für uns bereit.
THE WAVE (Die Welle)
Wie ein gigantisches, aufgewühltes Meer bewegt sich eine unüberschaubare Menschenmenge auf den leuchtenden Horizont zu. Die Luft dampft vor Dramatik, und die dominierende rote Farbe erweckt Vorstellungen von einem Schlachtfeld oder einer blutigen Revolution. Überall wehen schwarze Banner mit ihren verschiedenen Motiven, als handele es sich um eine politische Demonstration. Diese bedrohlichen Assoziationen werden jedoch gegenstandslos beim Anblick der mikroskopisch kleinen Rockband, die in einer schmalen Spalte am Horizont aufleuchtet und von einem ganz anderen Ereignis zeugt. Das Motiv könnte im Prinzip auf ein beliebiges Kapitel in unserer gemeinsamen Geschichte hinweisen.
In der Mitte ist auf einem Banner Hokusais berühmter Holzschnitt Die Welle zu sehen. Er stellt das die verschiedenen Elemente vereinigende Gesamtbild für dieses Gemälde dar, das denn auch nach ihm benannt ist. Eine Welle bedeutet Umwälzung, Veränderung, im schlimmsten Fall sogar Lebensgefahr. So kann sie auch für das unbarmherzige Vorwärtsstreben der Geschichte stehen. Als Historiengemälde präsentiert Die Welle kein spezifisches Ereignis unserer gemeinsamen Vergangenheit, sondern zeigt, wie sich die Geschichte durch eine Schicht aufeinandergehäufter Bilder hindurch selbst erzählt. Die Geschichte ist keine chronologische Erzählung, die einen linearen Zeitverlauf darstellt, sondern ein immenses Erinnerungslager, in dem die verschiedensten vergangenen Zeiten und Epochen zum Leben erweckt werden und nebeneinander auftreten können. An anderer Stelle ist John Constables berühmtes Gemälde Der Heuwagen zu sehen und erinnert uns daran, dass auch die Repräsentation eine Geschichte hat und dass jede Periode ihren eigenen visuellen Ausdruck besitzt, der in dem geschichteten Raum mit herumgewirbelt wird. Die existierenden Strukturen werden von einer Welle aufgewühlt, der so gewonnene neue Zustand jedoch enthält wiederum die Ereignisse und Bilder der Geschichte.
Die Menschen im Vordergrund sind nicht deutlicher hervorgehoben als die Figuren im Hintergrund, im Gegenteil, sie erscheinen sogar noch undeutlicher und anonymer, fast wie Statuen. Sie haben ihre Individualität verloren und werden nun willenlos im Raum der Geschichte umhergewirbelt, als seien sie Fossile aus einer weit entfernten Vergangenheit. Hier ist die Pinselführung expressiver, und ganz vorn sind lediglich dunkle Silhouetten zu sehen, wie Schatten, die die Menschen in der ersten Reihe auf die Kinoleinwand werfen. Oder vielleicht sind wir es selbst, die die Bilder der Geschichte betrachten und dabei zu einem Teil von ihnen werden.
BIBLIOTEK (Bibliothek)
„Nach alledem scheint es, daß die beiden Räume – der Raum der Innerlichkeit und der Raum der Welt – durch ihre „Unermeßlichkeit“ zum Einklang gebracht werden. Wenn sich die große Einsamkeit des Menschen vertieft, berühren sich, vermischen sich die beiden Unermeßlichkeiten.“ (Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, Fischer Taschenbuchverlag Frankfurt am Main, 7. Auflage, 2003, S.203)
Das Gemälde ist in zwei Zonen aufgeteilt, eine dunkle und eine helle. Zuoberst ist ein leuchtender, orangeroter Abendhimmel zu sehen. Es könnten auch Flüsse sein, die sich als dunkle Spalte in einer goldenen Landschaft abzeichnen. Unten treten nach und nach kleine Gestalten aus dem Dunkel hervor wie auf den Chiaroscuro-Malereien des Barock. Die Motive überlappen sich wie auf einer Collage, das Dunkel schmiegt sich um die Figuren und lässt die Verbindungslinien verschwimmen. Die Personen haben aufgeschlagene Bücher vor sich liegen und sind anscheinend in ihre Lektüre vertieft, genauso wie man es sich in den stillen, staubigen Räumen der Bibliothek vorstellt.
Der Detailreichtum des Gemäldes ist grenzenlos, und der aufmerksame Betrachter wird in die Welt der Lesenden eingeweiht, die sowohl Degas, Rembrandt als auch klassische Säulen und Pflanzenornamentik umfasst. Einige Figuren wirken mitsamt ihrer Umgebung bekannt, als hätten wir sie schon auf anderen Gemälden gesehen. An einer Stelle sieht es sogar aus, als würde eine Figurengruppe wiederholt und träte als rotes, skizzenhaftes Echo ihrer selbst auf. Die klassischen Säulen wiederum figurieren nicht nur als Bild in einem Buch, sondern erscheinen auch wieder als monumentale Silhouetten gegen den leuchtenden Himmel. Ganz unten rechts ist eine collageähnliche Zusammenstellung von alten Fotografien und Zeitungsausschnitten zu sehen, die zu einer gräulichen Masse aus Rastern, Druckschwärze und flüssiger Farbe verschmielzten. Fiktion und Wirklichkeit fließen ineinander, was von den lesenden Personen hervorgehoben wird, die sich genau auf der Schwelle zwischen diesen beiden Dimensionen befinden. Es geht hin und her zwischen den beiden Teilen des Gemäldes: Der große offene Raum mit seinen Spalten von Unendlichkeit ist auch Teil der Welt der Lesenden. Durch die Kraft des Gedankens überschreiten sie die Grenzen des physischen Raums und bewegen sich schwerelos auf ferne Horizonte zu. Die Verbindung zwischen den beiden Räumen des Gemäldes, zwischen drinnen und draußen, wird durch die Theorie des Philosophen Gaston Bachelard über den Zusammenhang zwischen Innerlichkeit und Unermesslichkeit erklärt: Je mehr wir uns in die nahe Welt um uns herum vertiefen, desto näher rücken wir der Unendlichkeit.
Als Museum ist die Bibliothek ein Erinnerungslager für Relikte aus vergangenen Zeiten, die auf unserer Wanderung durch die staubigen Räume wieder zum Leben erweckt werden, wenn wir uns für sie interessieren. Das Gemälde stellt somit ein optimistisches Versprechen auf Unsterblichkeit dar. Dieses Versprechen beinhaltet, dass die Vergangenheit niemals nur Vergangenheit ist, sondern für immer einen Platz in der Gedankenwelt der Lebenden hat.
RAFT (Floß)
Dieses Gemälde unterscheidet sich von den anderen durch seine Einfachheit. Das Motiv ist nicht aus vielen detaillierten Fragmenten zusammengesetzt, sondern konzentriert sich auf wenige Elemente, bei denen das Auge ungestört verweilen darf. Auf einem riesigen, aufgewühlten Meer treibt planlos ein Floß mit drei leblosen,gekrümmten Menschenkörpern umher. Titel und Motiv lassen an Théodore Géricaults berühmtes Bild Das Floß der Medusa denken, nicht zuletzt weil Gesichtswinkel und Winkel des Floßes auf der Bildebene identisch sind. Dieser Vergleich sei gestattet, um zu beleuchten, in welch hohem Maße Nina Sten-Knudsens Version sich von dem nervenaufreibenden Drama ihres romantischen Kollegen unterscheidet.
Auf Raft ist die Katastrophe schon eingetroffen. Der Sturm hat sich gelegt und es gibt nur noch die Leere. Das einzige Lebenszeichen ist das kleine Männchen, das wie durch ein Wunder hinter dem Floß auftaucht. Es ist jedoch zu klein, um eine echte Hoffnung darzustellen. Schärfe und Farbe heben ihn und die toten Körper von den expressiven Pinselstrichen der Umgebung ab. Besonders die Figuren auf dem Floß wirken wie auf die Leinwand gestempelt und nicht wie gemalt, und dieser Eindruck bestärkt sich durch die Entdeckung, dass dieselbe Figurengruppe in kleinerem Format links davon wiederholt wird. Die Menschen hier sind als individuelle Persönlichkeiten bedeutungslos. Wie die Figuren im Vordergrund von The Wave sind sie auf willenlose Fossile reduziert und im Begriff, von dem gigantischen Meer der Geschichte verschlungen zu werden. Das kleine Männchen macht keinen Unterschied, weil es in eine andere Dimension, in einen anderen historischen Raum gehört.
Die hohe Horizontlinie raubt dem Gemälde etwas von seiner Tiefe. Das Floß schafft eine Spannung zwischen dem fiktiven Raum und der Fläche der Leinwand und droht, die Toten aus dem Gemälde in die Arme des Betrachters zu kippen. Die nahezu abweisende Flachheit des Gemäldes wird nur an einer Stelle durchbrochen, und zwar direkt an den Köpfen der Ertrunkenen, wo ein sternklarer Nachthimmel aus dem Zwischenraum zwischen den breiten Pinselstrichen aufzutauchen scheint. Hier öffnet sich der unendliche Raum irgendwo hinter der Oberfläche des Gemäldes, bereit, die verlorenen Geschöpfe zu verschlingen und sich für immer über ihnen zu schließen.
LANDSKABET, SENERE (Die Landschaft, später)
Hier ist eine riesige und auf den ersten Blick menschenleere Berglandschaft mit spärlicher Vegetation zu sehen. Mit seinen braunen und ockerfarbenen Nuancen und der ungleichartigen, anscheinend unsystematischen Perspektive erinnert das Motiv an eine hellenistische oder römische Wandmalerei. Die Landschaft ist nicht als Ganzheit dargestellt, sondern setzt sich aus einzelnen Räumen zusammen, deren Elemente offenbar keine eigentlich räumliche Verbindung miteinander haben und auch keine übergeordnete Perspektive besitzen.
Mit der Landschaftsmalerei bewegt sich Nina Sten-Knudsen in einen von Traditionen beschwerten Raum voller Klischees und entsprechend ist auch dieses Gemälde genau wie Bibliotek und Museum mit kunsthistorischen Hinweisen gespickt.
Das goldene Abendlicht und die kahlen Berge lassen an das Arkadien denken, das eng mit der Landschaftsmalerei und Dichtung von der Renaissance bis ins 17. Jahrhundert verbunden war. Zu nennen wären hier so verschiedene Maler wie Giorgione und Nicolas Poussin. Das römische Observatorium bestärkt das Gefühl, es handele sich um eine ferne, antike Vergangenheit, erinnert aber auch an die friedvollen Wiedergaben der Campagna Romana. Das leuchtende Flammenmeer der untergehenden Sonne gemahnt dafür hingegen an William Turners rätselhaften romantischen Nebeldunst. Keine Periode wird stillschweigend übergangen auf diesem gigantischen Gemälde, das seine ganze Vorgeschichte in einem komplexen, vielschichtigen Raum zusammenzufassen scheint.
Erst nach längerer Betrachtung des Gemäldes wird deutlich, dass die barsche, gleichzeitig aber friedvolle Landschaft von kleinen Figuren bevölkert ist, die wiederum auf derüber die ganzen Leinwand verteilt sind: ein Gitarrenspieler, zwei Figuren, die aussehen, als stammten sie aus einer alten Fotografie, und ein Junge, der auf einer Schreibmaschine schreibt. Diese kleinen, in das Gemälde eingelegten Erinnerungsbilder bezeugen die Zeit, die vergangen ist, seitdem die Landschaft neu und unerforscht war und zum ersten Mal von den beiden Pionieren an der Hütte betreten wurde. Die Landschaft ist genauso historisch wie die Bibliothek und das Museum, und für jede Bewegung, die in dem malerischen Raum geschieht, taucht die Vergangenheit wie in einer archäologischen Ausgrabung auf. Dies ist mehr als eine zufällige Collage aus Bruchstücken einer bildreichen Kultur, in der schon alles ausprobiert und gesehen wurde:. Der fragmentierte Raum wird in dem durch das Bild wandernden Blick des Betrachters, der der Pionier des Gemäldes ist, zusammengefügt, und das Vergangene wird durch seine Aufmerksamkeit wieder zum Leben erweckt.
BALKON
Die seltsame Vorstellung aber, dass es ein kleines Bild von etwas gibt, das schon in der Welt ist, verleiht dem Gemälde die Funktion einer Landkarte und zwingt uns, in dieser Landschaft umherzugehen. (Nina Sten-Knudsen 2002, S. 2)
Fassaden, Straßen und Architekturfragmente aus dem historischen Zentrum einer Großstadt überlappen sich und stoßen in einer labyrinthischen Komposition zusammen, in der jedes einzelne Motiv seinen Fluchtpunkt besitzt. Der Blick wird hin- und hergeschickt in einem unüberschaubaren, vielschichtigen Raum. Er erweckt Assoziationen an die Skizzen römischer Ruinen, die Giovanni Battista Piranesi im 18. Jahrhundert malte. Es könnte sich um jede beliebige größere Stadt in Europa handeln, die Architektur und die kleine Karte zuoberst verraten jedoch, dass es das polnische Krakow ist. Hiermit wird noch ein weiterer Gesichtswinkel zu den unendlich vielen sich kreuzenden Perspektiven hinzugefügt, denn mit der kartographischen Repräsentation schwebt der Betrachter hoch oben in der Luft über allen Straßen und Gassen, genau wie die Personen auf dem Balkon, nach dem das Werk benannt ist. Mehr noch als die Karte enthüllt Leonardos Die Dame mit dem Hermelin in der linken Seite des Gemäldes die geographische Platzierung des Motivs, denn dieses Bild hängt in Krakow. Hier ist Leonardos Figur wieder zum Leben erweckt worden und betrachtet als scheue, junge Dame mit erhabenem Erstaunen aus ihrem Fenster das Chaos der Stadt, des Lebens und der Geschichte.
Die roten Neonbuchstaben bilden das Wort CINEMA. Damit wird ein Thema angeschlagen, das für die Darstellung von großer Bedeutung ist. Im Gegensatz zu dem Standfoto, das den Betrachter an eine stillstehende Position vor dem Motiv bindet, kann der Film mit seiner Beweglichkeit genau die Vielfalt von Räumen produzieren, die von der polyfokalen Malerei angestrebt wird. Deshalb ahmen der Film und nun auch die Malerei besser als jedes andere Medium die planlosen Kreuzschwenks der menschlichen Erinnerung nach. Denn dies hier ist eine Großstadt, wie sie in der Erinnerung auftritt, in der das eine Bild hastig dem anderen nachfolgt und ein berühmtes Gemälde denselben topographisch assoziativen Effekt hat wie eine Landkarte. Balkon strahlt eine romantische Melancholie aus, verstärkt durch die beharrliche blaue Farbe hinter der kleinen Gruppe auf dem Balkon, die auf die Verwüstungen und die Monumente blickt, die der unbarmherzige Gang der Geschichte hinterlassen hat. Battista Piranesis antike Bauwerke sind ersetzt durch die moderne Ruine, die durch ihr planloses Auftauchen in unserer Erinnerung niemals aufhören wird zu existieren.
OPERA, 2006 (Oper, 2006)
Wie in Landskabet, senere präsentiert Opera eine große, ockerfarbene Landschaft, die sich kahl auf eine hoch platzierte Horizontlinie zu erstreckt. Dieser panoramische Gesichtswinkel erinnert an die Kameraführung in einem Film, der sich seinem Ende nähert, und erlaubt uns, einen privilegierten Überblick über den komplexen Raum mit seinen vielen Details und Schichten zu gewinnen. Denn auch hier geraten nach und nach kleine Figuren und Motivfragmente in den durch das Universum des Gemäldes wandernden Blick, der durch das Universum des Gemäldes wandert.
Im Vordergrund ist eine Opernsängerin zu sehen, die ihre ewig junge Seele in den Raum hinaussingt. Ihre Figur wiederholt sich mitten im Gemälde als mikroskopisch kleine, schwarze Silhouette, die im Begriff ist, sich von der riesigen Landschaft verschlingen zu lassen. Links ist eine Gruppe Menschen zu sehen, die nah beieinander sitzen und sich aneinander anklammern. Sie wirken unglücklich, teilen aber ihr Leid, das vielleicht dadurch verursacht wurde, dass ein naher Verwandter leblos in der nackten Erde unter ihnen begraben liegt. Die Gruppe von Trauernden wird im Miniaturformat im Körper der Sängerin wiederholt, als wäre es deren unerträgliche Trauer, die sie durch ihren Gesang und ihre leidenschaftliche Gestik freisetzt. Aus einer Schicht unterhalb ihrer skizzenhaften Kontur tauchen zwei Musiker auf, die ihre Instrumente hervorgeholt haben, um ihren heftigen Gefühlsausbruch zu begleiten. Von rechts zeichnet ein Mann die Szene mit seiner Kamera auf, wobei er durch seine Platzierung und den Ausdruck journalistischer Nüchternheit an den schreibenden Jungen in Landskabet, senere erinnert. Seine Tätigkeit und der räumliche Abstand stehen in Kontrast zu den starken Gefühlen der übrigen Figuren.
Auch mit diesem Landschaftsgemälde knüpft Nina Sten-Knudsen an eine lange Tradition an. Die wiederholten visuellen Verknüpfungen von Gefühl, Musik und Landschaft erwecken den Eindruck, als würden Geschichte und Funktion der Landschaftsmalerei von der Renaissance bis heute einbezogen und inszeniert. Von Trauer und Trauma des Vordergrunds werden wir – wie die Sängerin – zu den heilenden Kräften der fernen Landschaft geführt, was unterstrichen wird durch die schwindende Kluft. Das Werk Opera ist eine visuelle Symphonie, die durch die Exponierung der dialektischen Gratwanderung von Einfühlung und Abstand das bleibend heilende Potential der Kunst illustriert.
JUST GIVE ME MY EQUALITY (Gib mir nurdoch meine Gleichheit)
Auf diesem Gemälde kommt die Landschaft wenn möglich noch unwirklicher vor als in Landskabet, senere und Opera. In einem rätselhaften Turnerschen Nebeldunst gleiten ihre Formen ineinander über und lassen sich nur schwer ausmachen. Im Hintergrund sieht es aus, als ließe sich die bunte Landschaftsvision wie eine Traube von Gewitterwolken wegziehen, um einer hellen, kahlen Ebene Platz zu machen, auf der sich dünne Flussläufe ins Unendliche verzweigen.
Die Menschenfiguren, die den untersten Teil des Gemäldes bevölkern, sind, was Stil, Größe und Schärfe betrifft, offenbar von demselben collagehaften Zufallsprinzip geprägt wie die der übrigen Werke. Der gedankenverlorene, dunkelhäutige Mann mit den Händen im Schoß trägt einen zerknautschten Kittel, der ihm das Aussehen eines Künstlers verleiht. Es könnte Picasso neben einem seiner unzähligen weiblichen Modelle sein. Die Frau sieht mit einem fernen, träumerischen Blick vor sich hin. Lediglich das Gesicht ist detailliert ausgeführt, der Körper selbst ist Kontur, Skizze geblieben, als befände sich die Figur in einer Grauzone zwischen der Phantasie des Künstlers und der Wirklichkeit. Das Künstlerpaar steht in Beziehung zu der Menschengruppe in der Schicht unterhalb der Frau, einmal durch seine Platzierung, und zum anderen, weil die Personen der Gruppe die gleiche etwas bohèmehafte Ausstrahlung besitzen. Rechts von der Frau ist in grellem Licht das übel zugerichtete Gesicht eines Mannes zu sehen, dessen dunkle Augen unter wirrem Haar hervor verängstigt auf den Betrachter blicken. Wie die Künstlergruppe unter ihm gleicht er einem Motiv aus einem alten aussortierten Pressefoto, dessen Ursprung niemand mehr kennt, so dass auch niemand mehr weiß, ob er Opfer oder Folterer, Terrorist oder Geisel ist.
Die gewaltsame Wolkenformation, das Lichtmeer und der Sonnenuntergang rechts sowie die gedankenverlorenen, ängstlichen und nicht zuletzt die trauernden Personen verleihen dem Gemälde einen Anflug von Untergangsvision, die von der Frau mit dem Gesicht aus Johannes Vermeers Gemälde Frau mit Waage noch hervorgehoben wird. Am Rande der künstlerischen und politischen Kämpfe für Emanzipation und Gleichberechtigung des 20. Jahrhunderts steht sie als unerschütterliche, klassische Figur da und zieht Bilanz. Die Künstlerin dieses Gemäldes wiederum betrachtet durch ein rechteckiges Guckloch aus privilegierter Position: mitten in der Landschaft und gleichzeitig von ihr getrennt, verschiedene Ausdrucksweisen ihres eigenen Jahrhunderts. Die Abendlandschaft unserer Zeit wird nach und nach in Richtung Horizont weggeschwemmt, um den erst vage gezeichneten Konturen einer unbekannten Zukunft Platz zu machen.
Cecil Bojsen Haarder ist Magister in Kunstgeschichte.
LITERATUR
Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes, Fischer Taschenbuchverlag Frankfurt am Main, 7. Auflage, 2003 (1964)
Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 2001 (1927)
Sten-Knudsen, Nina: Wave. Katalog, DCA Gallery New York 2002
Sten-Knudsen, Nina: Nina Sten-Knudsen. Katalog. Sophienholm 2004